Cover
Titel
Die revolutionären Umbrüche in Europa 1989. Deutungen und Repräsentationen


Herausgeber
Ganzenmüller, Jörg
Reihe
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benno Nietzel, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte, Europa-Universität Viadrina

Als sich 2019 das magische Jahr „1989“, in dem die staatssozialistischen Regime in Ostmittel- und Osteuropa durch eine Reihe weitgehend friedlicher Revolutionen gestürzt wurden, zum 30. Mal jährte, war von einer länderübergreifenden Hochstimmung in Europa wenig zu spüren. In vielen betroffenen Gesellschaften blicken die Menschen auf die Umbrüche vor 30 Jahren heute weniger als eine euphorische Aufbruchzeit, sondern eher als den Beginn eines von Unsicherheit, Enttäuschung und Ernüchterung bestimmten Lebensabschnitts zurück. Trotz der vielfachen transnationalen Verflechtungen zwischen den nationalen Revolutionen ist „1989“ nie zu einem gemeinsamen europäischen Erinnerungsort geworden, vielmehr ist die Erinnerung daran in einigen Ländern mehr denn je politisch umstritten und hat vielfache Umdeutungen erfahren. Auch auf Deutschland trifft das zu: Die Tatsache, dass das vor 16 Jahren beschlossene „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ bis heute nicht errichtet wurde und sich stattdessen am vorgesehenen Ort in Berlin eine leere Baustellenfläche erstreckt, gibt den schwebenden Zustand des Gedenkens an den Umbruch von 1989/90 im Grunde äußerst treffend wieder. Vor diesem Hintergrund liefern die Beiträge des vom Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller herausgegebenen und auf eine Tagung der Stiftung Ettersberg im Jahr 2019 zurückgehenden Bandes Einblicke in eine in dauernder Bewegung befindliche Deutungs- und Repräsentationslandschaft, die sich der Vereindeutigung durch institutionalisiertes Gedenken entzieht. Insgesamt 11 Aufsätze, fast alle von jüngeren Historikerinnen und Historikern verfasst, die 1989/91 noch im Kindesalter waren, decken sowohl Deutschland als auch mehrere Länder des östlichen Europa ab, namentlich Tschechien, Polen, Bulgarien und Rumänien sowie als einziges post-sowjetisches Land Litauen.

Zwei einführende Beiträge umreißen und kartieren zunächst das zeithistorische Forschungs- und Diskussionsfeld. Jörg Ganzenmüller unterscheidet in seiner Einleitung zwei Narrative, die sich in der Erzählung über den Umbruch von 1989/91 ineinander verschlungen haben und sich mit den Begriffen von „Freiheit“ einerseits und „Nation“ andererseits verbinden. Das Freiheitsnarrativ betont vor allem den Sturz der sozialistischen Parteiregime und den Durchbruch zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das Nationsnarrativ deutet diese indes als Rückkehr auf einen Pfad nationaler Selbstbestimmung, der durch das von der Sowjetunion oktroyierte Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell unterbrochen worden war. Die Tatsache, dass beide Narrative in den meisten postsozialistischen Ländern weitgehend zusammenfallen, überdecke die Reibungen und Ambivalenzen zwischen ihnen: In Deutschland gehe das staatsoffizielle Gedenken an „Freiheit und Einheit“ darüber hinweg, dass die politischen Veränderungsprozesse, die in der späten DDR von der dortigen Bürgerrechtsbewegung vorangetrieben wurden, keineswegs von Anfang an auf die staatliche Vereinigung mit der Bundesrepublik zielten. In den ostmitteleuropäischen Gesellschaften impliziere die Deutung des Staatssozialismus als einer Quasi-Fremdherrschaft eine pauschale nationale Exkulpation und weiche damit der Frage nach der gesellschaftlichen Fundierung der sozialistischen Parteiherrschaft aus. Im zweiten Einführungsbeitrag nähert sich Ralph Jessen dem Umbruch von 1989/90 in einer begriffsgeschichtlichen Perspektive und untersucht mit den Schlagworten „Revolution“ und „Wende“ zentrale zeitgenössische Begriffe, mit denen die Zeitgenossen das Geschehen fassten; er diskutiert darüber hinaus aber auch Gründe, warum andere Begriffe wie „Befreiung“ keine breite Verwendung fanden. Was dabei vor allem ins Auge springt, ist die Diskrepanz, die zwischen der Rede von der „Friedlichen Revolution“ in der staatsoffiziellen Erinnerungspolitik und dem Sprechen von der „Wende“ besteht, wie der Umbruch von 1989/90 und die Zeit der Veränderungen danach von den meisten (Ost-)Deutschen im Alltag bezeichnet wird. In diesem vagen „Omnibusbegriff“ (S. 48) scheinen sich die vielfältigen Erfahrungen der Zeitgenossen am besten einzufangen.

Es folgen drei thematische Abschnitte mit jeweils drei Beiträgen. Unter der Überschrift „Visualisierungen und Bedeutungszuschreibungen“ präsentiert Axel Doßmann zunächst vielfältige Beispiele jenseits der bekannten ikonischen Bilder dafür, wie 1989/90 das Umbruchgeschehen, insbesondere „das Volk“, fotografisch in Szene gesetzt wurde. Anschließend untersucht Petra Mayrhofer, welchen Stellenwert die „Runden Tische“ als Orte der Aushandlung zwischen Vertretern des herrschenden Parteiregimes und der Opposition in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen einnehmen. Im Ergebnis zeigt sich klar, dass diese in Ungarn, Tschechien und auch in Deutschland nur wenige Spuren im visuellen Gedächtnis hinterlassen haben, während allenfalls der Runde Tisch in Polen, der als einziger tatsächlich rund war, noch eine gewisse Prominenz besitzt. Martina Beleva wendet sich im dritten Beitrag des Abschnitts einer Fotografie aus dem privaten Archiv ihrer Familie zu, die eine lange Warteschlange vor einem Milchgeschäft im Winter 1990/91 zeigt und damit eine zentrale Erfahrung der postsozialistischen Umbruchzeit einfängt.

Der zweite Abschnitt widmet sich „Repräsentationen und Erinnerungsorten“. Zunächst vergleicht Rainette Lange die Art und Weise, wie sich die Nach-Wendezeit in der deutschen und der tschechischen Gegenwartsliteratur niedergeschlagen hat. Während in Deutschland ein regelrechtes Genre von Nachwenderomanen entstanden ist, in denen Leere und Verlust als zentrale biographische Erfahrungen einer jüngeren Generation in den 1990er-Jahren Aufgewachsener figurieren, finde sich auf den ersten Blick in der tschechischen Literatur dazu kein Pendant. In einer veränderten Perspektive wird aber erkennbar, dass eine solche Ästhetik der Leere sich durchaus auch bei tschechischen Autor:innen zeigt, wenn diese vordergründig andere Sujets behandeln, dabei aber im Subtext auch den Umbruch von 1989/90 und die Schwierigkeiten einer gesellschaftlichen Aufarbeitung reflektieren. Ekaterina Makhotina widmet sich anschließend den zentralen Erinnerungsorten, in denen in Litauen der Umbruch von 1989/91 institutionell repräsentiert wird. Dabei steht insbesondere der 13. Januar 1991, an dem sowjetische Truppen das litauische Unabhängigkeitsstreben mit einer gewaltsamen Intervention zu unterdrücken versuchten, im Mittelpunkt. Die Deutung der Geschehnisse als eines nationalen Befreiungskampfes führt in der offiziellen Erinnerungskultur sowohl zur Demontage sowjetischer Denkmäler als auch verstärkt zum Rückgriff auf die vorsowjetische Vergangenheit bis zurück zum mittelalterlichen Großfürstentum Litauen. Schließlich setzt sich Daniel Logemann mit dem Konzept des Europäischen Solidarność-Zentrums in Gdańsk auseinander, das 2014 auf dem Gelände der ehemaligen Leninwerft eröffnet wurde. Er kritisiert vor allem, dass in der Architektur und der Ausstellung die Solidarność als weitgehend geschichtsloser Teil eines globalen Freiheitskampfes inszeniert, ihre Geschichte aber nur partiell an den konkreten Ort rückgebunden werde. Auch finde das Zentrum keinen Weg, die einschneidenden sozioökonomischen Veränderungen in den 1990er-Jahren in das eigene Konzept zu integrieren, obwohl diese in der postindustriellen Gestalt des baulichen Umfeldes eigentlich ins Auge springen.

Die Beiträge des folgenden Abschnitts beschäftigen sich mit „Umdeutungen und Deutungskämpfen“ und reichen mit ihren Analysen bis an die Gegenwart heran, in der nicht nur in Deutschland die Erinnerung an den Umbruch von 1989/90 immer wieder neu gedeutet, sondern auch vielfach instrumentalisiert wird. Das zeigen Alexander Leistner und Anna Lux am Beispiel der vielfachen Rückgriffe auf die Protest- und Demonstrationsbewegung der späten DDR aus ganz verschiedenen Richtungen. Schon 2001 richteten etliche ehemalige Bürgerrechtler:innen mit ihrem Aufruf „Wir haben es satt“ schwere Vorwürfe gegen die Anti-Terror-Politik der Bundesregierung nach den Anschlägen vom 11. September und bedienten dabei ein Widerstandsnarrativ, das ihre Proteste mit der Opposition gegen das SED-Regime parallelisierte: Damals wie heute setze sich eine abgehobene Politikelite über die Interessen der Bürgerinnen und Bürger hinweg. Nachdem der Protest gegen die Hartz-Gesetze nach 2004 auch das Format der Montagsdemonstrationen wieder aufleben ließ, war das rhetorische und symbolische Arsenal für eine neuerliche Aneignung der Wendeerinnerung auch durch die politische Rechte bereits voll ausgeformt. Die rechtsextreme PEGIDA-Bewegung und später die AfD aktualisierten das Widerstandsnarrativ in lediglich leicht abgewandelter Form, indem sie politische Auseinandersetzungen zu einem Ost/West- und einem Unten/Oben-Konflikt verallgemeinerten und dabei ein ums andere Mal ein ostdeutsches Erfahrungskollektiv zur „wirklichen“ Lebenswelt stilisierten und ihm eine historisch aufgeladene, höhere Legitimität zumaßen.

In einem weiteren Beitrag setzt sich Florian Peters mit der gespaltenen Erinnerung an „1989“ im heutigen Polen auseinander. Während dort eine liberale Erzählung den friedlichen Systemwechsel als Krönung einer Geschichte des nationalen Freiheitskampfes begreift, haben führende Vertreter der jüngst abgewählten Regierungspartei „Pravo i Sprawiedliwość“ (PiS) den Umbruch vielmehr bis zuletzt als eine Verschwörung der kommunistischen Elite mit dem liberalen Flügel der Solidarność-Opposition abgewertet, in dessen Folge sich an einer Regierung gegen die wahren Interessen des einfachen Volkes und der Nation in Wahrheit nichts geändert habe. Mit dieser rechten Gegenerzählung wurde die parteiische Personalpolitik der PiS-Regierung und der Rückbau von Rechtstaatlichkeit und Demokratie in den letzten Jahren gerechtfertigt und die Erinnerung an „1989“ ridikülisiert. Wohl in keinem anderen Land Ostmitteleuropas ist diese Erinnerung derart umstritten. Der letzte Beitrag des Bandes von Martin Jung beleuchtet die eigentümliche Erinnerungspolitik in Rumänien, wo der Umbruch von 1989/90 gewaltsam verlief und schon in seinem Verlauf bis heute nicht wirklich historisch aufgeklärt ist. Hier hatte sich das ZK-Mitglied Ion Iliescu im Dezember 1989 gegen den Diktator Nicolae Ceauşescu gestellt und diesen mit Unterstützung des Militärs hinrichten lassen. Als langjährigem Präsidenten im postkommunistischen Rumänien gelang es ihm, das, was eigentlich eher ein Militärputsch war, als revolutionären nationalen Wendepunkt und Neubeginn zu stilisieren und diese Deutung auch in der staatsoffiziellen Erinnerung zu verankern, die erst in letzter Zeit zunehmend brüchig zu werden beginnt.

Die einleitend entwickelten analytischen Leitlinien des Bandes scheinen eher vom deutschen Beispiel her gedacht, erweisen sich aber in anderen Kontexten als tragfähig. Einige Beiträge entfalten für ihre spezifischen Gegenstände eigene Ansätze. Für die Zukunft wäre auch ein stärker systematisiertes Panorama dessen zu wünschen, was „1989“ in den von der postsozialistischen Transformation betroffenen Ländern Europas heute bedeutet. Insgesamt handelt es sich aber um einen sehr gelungenen Band, dessen Beiträge aus verschiedensten Perspektiven die schwierige Erinnerung an die damaligen Umbrüche beleuchten.

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